Wie Anita anfing, mit mir zu reden

Wie Anita anfing, mit mir zu reden

Anita kam zu mir in die erste Klasse. Sie war ein herziges kleines Mädchen, fleissig und beliebt. Sie hatte nur ein einziges Handicap: sie sprach nicht mit Erwachsenen. Ihre Eltern zeigten mir im ersten Elterngespräch ihre grosse Sorge. Ich hatte jedoch keine Probleme damit. Solange ihre Schulleistungen so gut waren und sie mit Kindern sprach, war das für mich akzeptierbar. Anita und ich hatten eine Kommunikation gefunden, die es erlaubte, dass wir beide uns nicht verbiegen mussten. Sie sprach über ihre Mitschüler mit mir und ich sprach mit ihr in einer Form, wo sie sich mit ja oder nein begnügte.

Es kam die Zeit, dass ich in der zweiten Klasse ein Theater einüben wollte. Wir schrieben dieses Theater selber, also konnte auch jedes Kind seine Ideen einbringen und sich so seine Rolle zum Teil selber gestalten. Anita wählte eine Rolle ohne zu sprechen. Ich “verführte” sie dazu, ihre Rolle durch Mimik und Gestik eindrucksvoll zu spielen.

Im dritten Jahr war ein Theater geplant, das von den Schülern viel abverlangte. Wir spielten ein Musical. Da mehr Kinder als Rollen zu verteilen waren, wurden die Rollen drei-oder vierfach besetzt. Anita wollte unbedingt eine Verkäuferin am Markt sein, die ihre Waren anpries! Eine stumme Verkäuferin? Hm, jetzt hatte ich ein Problem….Und dann kam mir meine zündende Idee:

Ich liess die Kinder ihren Text in der Turnhalle “aufsagen”. Da die Turnhalle sooo gross war und es richtig hallte (es war ja eine Halle), habe ich bei allen Kindern einfach nichts verstanden. Ich forderte die Kinder auf, einmal richtig zu schreien (aber nur hier, sonst war ich gegen Schreien allergisch) Das zusammen Schreien machte allen richtig Spass.

Anita getraute sich anfangs nicht. Doch plötzlich holte sie tief Luft. Ich spürte förmlich, wie die ganze Kraft von den Füssen her durch den kleinen Körper hindurch ging. Anita schrie mich an. Wir schauten uns an, beide völlig erschrocken, kurz erstarrt und dann fingen wir an zu lachen. Der Bann war gebrochen. Für den Rest des Schuljahres sprach Anita mit mir wie jedes andere Kind auch.

Jahre später habe ich einmal ihren Vater getroffen. Er bedankte sich bei mir, dass ich Anita mit meinem Vertrauen damals so geholfen hatte. Er erzählte mir, dass seine Tochter eine Lehre gemacht hat und heute vor vielen Leuten Seminare gibt und Vorträge hält. Von dem scheuen kleinen Mädchen sei keine Rede mehr.

Meine Gedanken:

Anita war eine gute Schülerin. Sie war integriert, beliebt und hatte ihre zahlreichen Freundinnen, die sie gern hatten. Wenn ich sie beobachtete, dann erlebte ich sie als sehr ruhiges Kind, scheu, zurück gezogen, aber im Kontakt mit ihren gleichaltrigen Freundinnen. Ihre Eigenart, dass sie nicht mit Erwachsenen redete, erlebte ich keinesfalls als eine Störung, obwohl sich ihre Eltern grosse Sorgen machten.

Die eigene Stimme zu erleben gibt Selbst-Bewusstsein. Mit der Stimme haben wir ein Macht- Instrument, das wir sehr bewusst einsetzen können. Im Unterricht habe ich mit meiner Stimme oft gespielt. Wollte ich, dass mir die Kinder zuhörten, wurde ich sehr leise; meine Aussprache war in solchen Momenten sehr klar und deutlich.

Wenn man sich seiner Stimme bewusst ist, bekommt man Bodenhaftung. Das habe ich bei Anita sehr deutlich gesehen. Sie stand da, mit sicherem Stand, atmete voll durch und redete mit lauter Stimme.

Beim Singen erlebt man den eigenen Körper noch viel mehr als Resonanzkörper als beim Reden. Störfaktoren wie Konflikte, Fehler, schlechte Laune etc. haben wir im Unterricht mit Singen aufgefangen. 

Ich habe mit meinen Schülern sehr viel gesungen. Mit der Zeit entstand ein riesiger Liederschatz, so dass wir auch jede Situation mit einem Lied abfangen konnten.

Die eigene Stimme zu erleben gibt Selbst-Bewusstsein. Ich habe den Schülern gezeigt, wie ich mit den gleichen Wörtern etwas völlig anderes ausdrücken konnte. Ich gab den gleichen Wörtern eine andere Bedeutung, indem ich mit meiner Stimme spielte. So merkten die Kinder schnell, dass sie mit ihrer Stimme ihre Stimmungen und Gefühle sehr präzise ausdrücken konnten.

Mit zunehmendem Alter lernten die Kinder, ihrer Stimme Gewicht zu geben. Sie lernten, ihre Bedürfnisse und Grenzen klar und deutlich zu zeigen. Sie taten dies mit ihrer Stimme und nicht durch Körper- Einsatz. 

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