Mehmet fordert mich heraus

Mehmet fordert mich heraus

Ich war in einem Vorort von Zürich tätig. Damals hatten wir eine Projektwoche in allen Schulhäusern mit dem Thema “Die verschiedenen Kulturen”; wir waren eine Gemeinde mit ca. 80% ausländischen Kindern und so lag dieses Thema ziemlich auf der Hand. Ich beschloss, mit meinen Gruppen, die jeden Tag wechselten, nach Zürich zu fahren und anhand realer Objekte Zürcher Sagen zu erzählen.

Schon auf dem Weg zum Bahnhof fiel mir Mehmet auf. Ich kannte ihn nur vom Hörensagen; er ging nicht in meine Klasse. Er war laut und diskutierte mit anderen Jungen auf eine Art, die mir nicht sehr gefiel. Ich spürte, dass Ärger auf mich zukam. Am Bahnhof passierte es dann:

Konfrontation:

Normalerweise löse ich Probleme mit Schülern bilateral. Dieses Mal entschloss ich mich aber zu einem anderen Verhalten. Ich ging in die Hocke, um mit ihm auf Augenhöhe zu sein und sagte vor allen anderen Schülern zu ihm: “Du hast genau eine Minute Zeit, dich zu entscheiden. Entweder du hältst dich an die wenigen Vorgaben, die wir drei Erwachsenen machen, oder ich marschiere mit dir ins Schulhaus zurück und du gehst in eine der Kindergarten-Klassen. Die anderen Kinder fahren mit den Begleitpersonen nach Zürich und ich nehme dann den nächsten Zug, aber ohne dich. Du kannst meine eigenen Schüler fragen, ob ich das durchziehe. Zeit läuft.”

Betretene, teils erschrockene Gesichter; meine Stimme war nicht gerade leise und mein Auftreten klar, unerschrocken und sehr bestimmt. “Wänn d Mülli öppis seit, dänn isch es eso. Hey Mann, die zieht das dure!”

Unter Kontrolle:

Nach einem “Okee, ich mache mit” konnten wir friedlich in den Zug einsteigen. Mehmet realisierte, dass ich ihn im Visier hatte. Unsere Tour begann am Zürcher Hauptbahnhof mit dem Schutzengel von Niki de Saint Phalle.

Beim Grossmünster staunten die Kinder, dass offenbar immer am Samstag um 11 Uhr Kaiser Karl der Grosse mit dem goldenen Schwert auf den Knien den Leuten Semmeln vom Turm hinunter warf. “Das macht er aber nicht wirklich!?” wurde ich regelmässig von einigen Kindern gefragt. Ich empfahl ihnen jedes Mal, es doch selber mal auszuprobieren.

Bevor wir die Kirche von innen anschauten, erklärte ich den Kindern einige Regeln. Ein Gotteshaus, egal in welcher Religion, ist ein Ort der Ruhe und des Friedens. Da rennt man nicht herum, es wird nicht geschrien und auch nicht gegessen. Menschen, die in ein Gotteshaus gehen, suchen die Stille und möchten “bei sich” sein. Ich machte mir die Einfühlsamkeit der Kinder zu Nutze und sensibilisierte ihre Wahrnehmung auf die Bedürfnisse von anderen Menschen. Ich erklärte ihnen die Bedeutung einer Kanzel und der verschiedenen Statuen in dieser Kirche.

Plötzlich kam ein Mann auf uns zu. Er stellte sich als Mesmer (Küster) vor und lobte das vorbildliche Verhalten dieser 40 Kinder. Das habe er noch nie erlebt. Zur Belohnung durften wir in die Krypta hinunter, die normalerweise geschlossen ist. Dort wird das Original von Kaiser Karl dem Grossen, der früher auf dem Turm gesessen hat, mit dem goldenen Schwert auf den Knien, aufbewahrt. Auch hier hörten wir nochmals die Sage mit den Semmeln.

Nach dem Grossmünster wechselten wir die Seite des Flusses und besuchten das Fraumünster mit den berühmten Fenstern des Malers Marc Chagall. Im Durchgang bestaunten wir die Fresken der Geschichte mit der weissen Schlange, der Gründung der Wasserkirche und der drei Stadtheiligen Felix, Regula und Exuperantius (Häxebränz). “Boahh, mit em Chopf under em Arm über d Brugg laufe, weisch wie krass!”

Frieden:

Auf dem Weg zum Bürklipark am See fragte mich Mehmet, ob er mir ein bisschen von seinem Gotteshaus erzählen dürfe. Er erklärte mir, wie es in der Moschee abläuft, wenn er mit seiner Familie dorthin geht. Dass sie sehr viel lernen müssen und dass es aber auch sehr spannend sei. Ich erlebte seine Erzählungen als grossen Vertrauensbeweis und zeigte ihm das auch. Die Krönung war, dass wir gegenseitig etwas aus unserem Picknick tauschten.

Den Abschluss des Tages bildete der Besuch des Naturhistorischen Museums. Dort bestaunten wir den grossen Dinosaurier und die Ausstellung über Stadtfüchse.

Nachdenklich hoffnungsvoll:

Gelingt es mir vielleicht doch noch einmal, am Samstag pünktlich um elf vor dem Grossmünster in Zürich zu stehen? Vielleicht denke ich ja nächsten Samstag daran…...

Meine Gedanken:

Mehmet war ein Anführer. Er wollte wissen, wie ich reagiere und ob ich ihm meine Grenzen zeige. Das habe ich getan. Um ihm zu zeigen, dass ich es ernst meine, ging ich in die Hocke. So war ich mit ihm auf gleicher Augenhöhe. Ich war auch eine Anführerin und dadurch bekam er eine Konkurrentin. Ich redete mit ihm in einer klaren und kompromisslosen Sprache, einfach, aber sehr deutlich. Und ich gab ihm wenig Zeit zum Überlegen.

Instinktiv habe ich die richtigen Worte gesagt, mich richtig verhalten. Es hat mich ehrlich gefreut, als Mehmet mir sein Vertrauen zeigte. Ich drückte das auch aus. Ich habe Mehmet später ein paar Mal getroffen, als er mit seiner Familie unterwegs war. Er grüsste mich jedes Mal freudig und respektvoll und er machte mich mit seiner Familie bekannt.


 

 

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