Ich war in einem Vorort von Zürich als Lehrerin tätig. Damals hatten wir eine Projektwoche in allen Schulhäusern mit dem Thema “Die verschiedenen Kulturen”. Wir waren eine Gemeinde mit sehr vielen ausländischen Kindern und so lag dieses Thema ziemlich auf der Hand. Ich übernahm die Aufgabe, jeden Tag mit einer Gruppe von etwa 30 Kindern mit dem Zug nach Zürich zu fahren. Es waren jeden Tag andere Kinder in der Gruppe, sodass am Schluss der Woche jedes Kind unseres Schulhauses in Zürich war, um die Sagen und Bräuche dieser Stadt kennen zu lernen.
Schon auf dem Weg vom Schulhaus zum Bahnhof fiel mir Mehmet auf. Er ging nicht in meine Klasse und ich kannte ihn nur vom Hörensagen. Er war laut und diskutierte mit anderen Jungen auf eine ziemlich provozierende Art und Weise. Das gefiel mir nicht. Ich spürte, dass Ärger auf mich zukommen könnte und am Bahnhof passierte es dann:
Normalerweise löse ich Probleme mit Schülern bilateral. Dieses Mal entschloss ich mich aber zu einem anderen Verhalten. Ich ging in die Hocke, um mit ihm auf Augenhöhe zu sein und sagte vor allen anderen Schülern zu ihm: “Du hast genau eine Minute Zeit, dich zu entscheiden. Es gefällt mir nicht, wie du dich benimmst. Entweder du hältst dich an die wenigen Vorgaben, die wir Erwachsenen machen, oder ich marschiere mit dir ins Schulhaus zurück und du gehst in irgendeine Klasse. Die anderen Kinder fahren mit den Begleitpersonen nach Zürich und ich nehme dann den nächsten Zug. Du kannst meine eigenen Schüler fragen, ob ich das durchziehe. Zeit läuft.” Betretene, teils erschrockene Gesichter; meine Stimme war nicht gerade leise und mein Auftreten klar.
Nach einem “Okee, ich mache mit” konnten wir friedlich in den Zug einsteigen. Mehmet realisierte, dass ich ihn im Auge behielt. Unsere Tour begann am Zürcher Hauptbahnhof mit dem Schutzengel von Niki de Saint Phalle.
Beim Grossmünster staunten die Kinder, dass offenbar immer am Samstag um 11 Uhr Kaiser Karl der Grosse mit dem goldenen Schwert auf den Knien den Leuten Semmeln vom Turm hinunter warf. “Das macht er aber nicht wirklich!?” wurde ich regelmässig von einigen Kindern gefragt. Ich empfahl ihnen jedes Mal, es doch selber mal auszuprobieren.
Bevor wir die Kirche von innen anschauten, erklärte ich den Kindern einige Regeln. Ein Gotteshaus, egal in welcher Religion, ist ein Ort der Ruhe und des Friedens. Da rennt man nicht herum, es wird nicht geschrien und auch nicht gegessen. Menschen, die in ein Gotteshaus gehen, suchen die Stille und möchten “bei sich” sein. Ich machte mir die Einfühlsamkeit der Kinder zu Nutzen und sensibilisierte ihre Wahrnehmung auf die Bedürfnisse von anderen Menschen.
Plötzlich kam ein Mann auf uns zu. Er stellte sich als Mesmer (Küster) vor und lobte das vorbildliche Verhalten dieser 40 Kinder. Das habe er noch nie erlebt. Zur Belohnung durften wir in die Krypta hinunter, die normalerweise geschlossen ist. Dort wird das Original von Kaiser Karl dem Grossen, der früher auf dem Turm gesessen hat, aufbewahrt. Auch hier hörten wir nochmals die Sage mit den Semmeln. “Es lohnt sich also doch, wenn man sich an die Regeln hält”, raunte ich Mehmet zu, der gerade neben mir stand.
Auf dem Weg zum Bürklipark am See fragte mich Mehmet, ob er mir ein bisschen von seinem Gotteshaus erzählen dürfe. Er erklärte mir, wie es in der Moschee abläuft, wenn er mit seiner Familie dorthin geht. Dass sie sehr viel lernen müssen und dass es aber auch sehr spannend sei. Ich erlebte seine Erzählungen als grossen Vertrauensbeweis und zeigte ihm das auch. Die Krönung war, dass wir gegenseitig etwas aus unserem Picknick tauschten.
Meine Gedanken:
Mehmet war ein Anführer. Er wollte wissen, wie ich reagiere und ob ich ihm meine Grenzen zeige. Das habe ich getan. Um ihm zu zeigen, dass ich es ernst meine, ging ich in die Hocke. So war ich mit ihm auf gleicher Augenhöhe. Ich war auch eine Anführerin und dadurch bekam er eine Konkurrentin. Ich redete mit ihm in einer klaren Sprache, einfach, aber sehr deutlich. Und ich gab ihm Zeit zu überlegen.
Instinktiv habe ich die richtigen Worte gesagt. Es hat mich ehrlich gefreut, als Mehmet mir sein Vertrauen zeigte. Ich drückte das auch aus, indem ich meinen “Znüni” mit ihm teilte. Ich habe Mehmet später ein paar Mal getroffen, als er mit seiner Familie unterwegs war. Er grüsste mich jedes Mal freudig und respektvoll und er machte mich mit seiner Familie bekannt.